Zehn Jahre Berner Matte im Internet
Ende 1998 sassen wir gespannt vor dem Computerbildschirm an der Schifflaube 26. Der Zugang zur Webseite von www.matte.ch war soeben frei geschaltet worden. Schnell, die Adresse in den Browser eingeben und tatsächlich, schon erschien die erste Seite der Berner Matte im Internet.
Das Internet startet durch zum Massenmedium. Google war gerade drei Monate alt, der Browserkrieg zwischen Netscape und Microsoft entschied sich zu Gunsten des Internetexplorer 5.5 von Microsoft. Opera, ein pfiffiger, schneller Browser aus Norwegen war vier Jahre alt und schaffte es, trotz der übermächtigen Konkurrenz zu bestehen. Cablecom bot in Bern die ersten, damals sensationell schnellen Leitungen ins Internet an.
Der Weg für eine aktuelle Informationsplattform aus der Berner Matte war geebnet. Ziel war und ist es bis heute, finanziell, politisch und organisatorisch unabhängig zu informieren. Und es gab bereits von Beginn weg viel zu berichten. Im 1998 wurde das Wöschhüsi umgebaut. Nach einem Dornröschenschlaf als Lagerraum entstand ein freundliches, beliebtes Lokal das für Anlässe aller Art genutzt wird.
1999 berichtete www.matte.ch erstmals über eine Versammlung von Behördenvertretern, Nachtlokalbetreibern und Matte-Bewohnern im Restaurant Zähringer. Thema war einmal mehr die ständigen Verkehrs- und Lärmprobleme. Dem damaligen Leistpräsidenten René Stirnemann war das neue Medium Internet wenig geheuer und entsprechend bissig fielen denn auch seine Kommentare aus. Kurz nach dem Wechsel des Leistpräsidiums von René Stirnemann zu Stephanie Preiswerk trat die Aare über die Ufer, weite Bereiche der Matte standen unter Wasser. Während dieses so genannten Jahrhunderthochwassers berichtete www.matte.ch laufend aus dem hermetisch abgeschlossenen Quartier. Damit auch diejenigen die Berichte verfolgen konnten, die über kein Internet verfügten, wurden Ausdrucke bei der Post an die Scheiben geklebt. Die erste digitale Fotokamera von www.matte.ch, die damals zum Einsatz kam, war ein Ungetüm, deren Batterien bloss für wenige Aufnahmen reichten.
Im Jahr 2000 verdoppelte sich das Internet
von 10 Millionen auf 20 Millionen Seiten.
Die Computerzeitschrift PC-Tipp veröffentlichte unter dem Titel «Infos von der Cybermatte» einen Bericht über www.matte.ch: «Es habe sie fasziniert, global zu publizieren und lokal zu informieren, meint Rosmarie Bernasconi: «Mit keinem anderen Medium lässt es sich so schnell reagieren und informieren; praktisch jede und jeder kann publizieren, frei und unabhängig.»
Immer mehr von der «alten Matte» verschwindet. Häuser werden umgebaut, die Matte wird beliebt als junger Wohnort und Amüsiermeile Berns. Mehrere angesagte Nachtklubs haben bis in die frühen Morgenstunden offen.
Es hiess, Abschied zu nehmen von Vertrautem, zum Beispiel von Hans Hirsbrunner, von der ehemaligen, längst geschlossenen Bäckerei Hirsbrunner und von Albin Peter, Präsident des Matteänglisch-Clubs.
Im 2001 wird die Litfasssäule, einst Telefonkabine an der Schifflaube, definitiv geschlossen. In einem kurzen Strohfeuer kommen unterschiedlichste Nutzungskonzepte zur Diskussion. Doch die historische Rarität bleibt, was sie immer war, eine Plakatsäule. Die Matte-Leist Präsidentin Stephanie Preiswerk übergibt ihr Amt Benjamin Müller. Dauerthema in der Leistarbeit sind nach wie vor die Ruhestörungen der Nachtschwärmer und der zunehmende Vandalismus. Zwischen Leist und www.matte.ch kam eine lockere Zusammenarbeit zum tragen.
Im 2002 digitalisierte www.matte.ch die Printausgaben der Matte-Zytige. Der ursprüngliche Slogan «10 Jahre Matte-Zytig» musste bald ersetzt werden mit «20 Jahre Matte-Zytig». Von engagierten Mättelerinnen und Mätteleren wurden fast alle alten Matte-Zytig Nummern seit 1981 zusammengetragen und konnten ins Internet gestellt werden, ein aufschlussreiches Archiv der jüngeren Quartiergeschichte.
Im gleichen Jahr beabsichtigte die Post, die Poststelle Matte zu schliessen. Per Kutsche überbrachte der Leistpräsident Benjamin Müller die Petition zur Erhaltung der Matte-Post mit rund 3400 Unterschriften dem Leiter des Poststellennetzes Region Mitte.
Im 2003 trat die Regelung des Nachtfahrverbotes in Kraft.
Ab Mitternacht durften nur noch Matte-Bewohner in das Quartier einfahren. Das sorgte für allerhand Zündstoff, etwa wenn eine Mättelerin von einem Auswärtigen in die Matte chauffiert wurde und prompt in der Kontrolle hängen blieb. Nun, heute hat sich die Situation eingependelt - wo keine Kontrollen sind, gibt es auch keine Verkehrssünder. Von solchen Problemen nicht geplagt wurde Fritz Müller. Das ganze Quartier sammelte, bis genug Geld beisammen war, um dem Gehbehinderten die Mobilität in Form des Fritzcars, eines Elektromobils, wiederzugeben. An der Hauptversammlung im Frühjahr wurde Sven Gubler zum Matte-Leist Präsidenten gewählt.
Im 2004 bescherte die Aare den Mätteleren einen Schrecken und weckte Erinnerungen ans Jahrhunderthochwasser. Für eine kurze Zeit standen erneut die gefährdeten Stellen im Quartier unter Wasser.
Ins gleiche Jahr fällt der Brand der Kerzenfabrik Schulthess im Untergeschoss der alten Stadtmühle. Die Rauchsäule war weit herum zu sehen. René und Marianne Stirnemann, die im 1999 die Matte verlassen hatten, kehrten wieder zurück in ihre alte Heimat - standesgemäss in der Kutsche.
Im August 2005, nach heftigen Regenfällen, trat die Aare schon wieder über die Ufer, diesmal bereits an der Schifflaube. Schwemmholz versperrte den Abfluss über die Schwelle. Der reissende Fluss suchte sich einen neuen Weg durch die Matte. Die schweren Schäden betrafen die Erdgeschosse und Untergeschosse aller Häuser von der Schifflaube bis zur Mattenenge. Bis Mitte 2006 dauerte die Trocknungs- und Renovationsphase. Den akuten Beizennotstand - alle Restaurants in der Matte waren geschlossen - überbrückte die Katastrophenbeiz der Broncos−Loge mit Brigitta Müller. Im Zelt auf dem EWB−Känzeli, später dann auf dem Mühlenplatz fanden die Quartierbewohner einen provisorischen Treffpunkt und die Handwerker eine Verpflegungsmöglichkeit.
Abschied nehmen mussten wir vom jung verstorbenen Paul von Kaenel, Radiomann und Zytig-Macher im Matte-Leist. Zahlreiche vertraute Gesichter zogen nach dem Hochwasserschock aus der Matte. Paul Gränicher, der Matte-Posthalter ging in Pension und übergab seine frisch renovierte Poststelle einem Frauenteam mit Irene Betschen als neue Poststellenleiterin. Im Sommer tanzt eine bunte Schar Wef – Gegner mit Bänz Margot durch die Matte - friedlich und ohne die zuerst befürchteten Ausschreitungen.
Im 2006 plant die Stadt Bern zur Einschränkung des ungehindert die Matte-durchquerenden Nachtverkehrs tief greifende Massnahmen. Poller oder keine Poller, das Diskussionsfeuer war entfacht. Eine wahre Pollermania brach aus. Bernhard Hodler, der Matte-Anwalt stirbt nur 56 jährig nach langer Krankheit.
An der Badgasse eröffnete Rosmarie Bernasconi die erste Buchhandlung in der Matte und der Verlag Einfach Lesen fand ein neues Zuhause.
Die Fussball Weltmeisterschaft in Stuttgart wird mit einem Spiel der Schweiz angepfiffen.
Mit dabei ist Lars Fuhrer, der als Fahnenträger die Schweizer Fahne ins Stadion tragen hilft. In der Broncos-Loge beginnt der Loge Talk, Jimy Hofer unterhält sich mit Polo Hofer. Noch zahlreiche Gäste werden in den folgenden Jahren an diese Gesprächen mit machen.
Im 2007 wird es sportlich in der Matte. Auf dem Platz bei der Turnhalle findet ein Open Air Box Turnier statt. Die Tour de Suisse durchquert als Gesamtrennen die Matte. Und wie jedes Jahr sprinten Tausende Läuferinnen und Läufer am Kilometer 4 des Grand Prix von Bern durch die Gassen. Schon wieder: die Aare steigt bedrohlich hoch. Doch die Stadt hat ihre Aufgaben gemacht und die Schutzmassnahmen greifen, eine erneute Überschwemmung kann verhindert werden. In die Life Berichterstattung von www.matte.ch klinken sich tausende Websurfer ein, das Internet wird zum primären Informationsmedium in dieser Nacht. Die Server der Stadt Bern liegen flach, Radio und Fernsehen sind noch nicht vor Ort. In einem Blog wird das so kommentiert: «also, dann halt mal in der matte vorbeisurfen. dort wird citizen journalism in bester manier geboten, viele Fotos von der Aare und auch «trockene« Infografiken (exgüse für den schlechten Witz). merke: infos direkt bei den betroffenen abholen ist manchmal schneller als von den offiziellen!
"habi.gna.ch)"
Nach schwerer Krankheit stirbt Alex Murgkowsi aus dem Ligu Lehm, der Bäckerei und Brotladen an der Gerberngasse. Ebenso verlassen uns die Urmätteler «s’ Holzi«, Frau Holzer und Housi Bätscher.
Im 2008 erhalten unsere Nachbarn im Bärengraben mehr Auslauf, der Bärenpark entsteht. Das Wöschhüsi ist bereits zehn Jahre alt und das andere Malergeschäft Paint Art ebenfalls. Die Wirtsleute im Zähringer, Scotty und John Harper hören auf. Der Matte-Lift erhält eine neue Kabine. Die alte Matte gehört bald einmal der Vergangenheit an, wiederum haben uns weitere prägende Matte-Grinde für immer verlassen, Marcel Gerber, Lisa Aeberhard und Peter «Hueti» Hutmacher.
Das Blog Fieber packt auch www.matte.ch, der Matte-Blog (► www.matte.ch) wird ins Internet gestellt. Als neue gedruckte Quartierzeitung entsteht der Mattegucker ► www.mattegucker.ch.
Das Archiv, das aus diesen und unzähligen weiteren Nachrichten entstand umfasst inzwischen mehreren hundert Seiten Matte-Erinnerungen - alle abrufbar unter www.matte.ch.
im Mattegucker Nr. 1, November 2008